Streiflichter auf die Suchtberatung im Coronajahr eins (2020).
Die Psychosoziale Beratungsstelle für Suchtprobleme beschreibt in einem interessanten Rückblick auf das vergangene Jahr die Beratung unter dem Einfluss der Corona-Pandemie. Es werden verschiedene Aspekte im Verlauf sowie die Themen und Auswirkungen in diesem besonderen Jahr aufgezeigt.
16.03.2020: Kontakt gesperrt. Niemand kann kommen. Der erste Lockdown.
Wir stellen ganz um auf telefonische Beratung, kontaktieren unsere Klienten zu einem abge-sprochenen Zeitpunkt, sorgen für ausreichend Zeit, bereiten uns vor, sind zuverlässig und verbindlich. Es funktioniert besser als gedacht. Die meisten Klienten lassen sich darauf ein, schätzen den stabilen Anker und Kontakt, wir „verlieren“ kaum jemanden, nur wenige springen ab. Bei neuen Fällen ist es allerdings fragiler.
Der Ton bekommt die zentrale Funktion.
Die Gesprächsführung wird manchmal zum Balanceakt, das Heraushören erfordert eine hohe Konzentration. Auch Gesprächspausen – sonst im Facetoface-Kontakt kein echtes Problem bzw. sogar förderlich – bekommen in der telefonischen Beratung eine höhere Schaltfunktion: Kommt noch was oder ist man nun am Ende.
Mehr Krisen, mehr Rückfälle, mehr Suchtverhalten?
Das sehen wir in dieser Anfangszeit kaum. Viele warten zunächst ab, schieben auf, man hält sich allgemein zurück. Auch depressive Menschen leiden nicht plötzlich mehr, da die sozialen Einschränkungen alle und jeden betreffen. Wer stabil ist, bleibt dies meistens auch. Dass viele Menschen zuhause nun mehr Alkohol trinken, ist nicht überraschend. Der verordnete häusliche Rückzug bringt auch mehr Abtauchen in virtuelle Welten mit sich. Bei manchen wird das ein Durchgangsphänomen sein, das später wieder nachlässt, andere können aber dabei hängen bleiben. Eine sprunghafte Zunahme von Beratungssuchenden (entgegen mancher Reklama-tionen) gibt es zunächst nicht. Im weiteren Verlauf nimmt die Inanspruchnahme ab, später steigt sie wieder deutlich an.
2020 hatten wir 434 Fälle,
im Vorjahr etwas weniger. Der Anteil von betroffenen Frauen ist gestiegen. Die Kontakt-Anzahl nahm zu auf insgesamt 1626, darunter jetzt deutlich mehr Telefon-Beratung und Online-Kontakte. Die Vermittlung in Entgiftungen und stationäre Therapien war verzögert, aufgeschoben, aufwändiger, später wieder leichter möglich.
Juni 2020: Lockerungen
Klienten können wieder zu uns kommen, Selbsthilfegruppen sich treffen. Man findet sich zurecht mit Abstand, mehr Hygiene - und trägt Maske. In vielen Fällen sehen wir bis heute gegenseitig nur das halbe Gesicht. Das Händeschütteln unterbleibt – seltsam ungewohnt.
Wird dies vielleicht dauerhaft wegfallen – als Verlust einer soziokulturellen Gepflogenheit, die durch die Pandemie erschüttert wird?
Themen sind die Arbeitssituation, Kurzarbeit, Home-Office und -Schooling. Häufige Probleme sind Stress durch häusliche Dichte und Konflikte, geringe Ausweichmöglichkeiten, Überlastung und Monotonie. Die große gesundheitliche und wirtschaftliche Krise scheint vorerst gebannt. Entspannung und Erleichterung vor dem Hintergrund einer ungewissen Entwicklung.
Herbst/Winter 2020: Aushalten, Abwehren, Durchhalten
Die Gruppen sind wieder zu. Die Beratung offen. Erneut drücken Einschränkungen auf die Stimmung. Die Geduld wird strapaziert, braucht sich langsam auf. In den Gesprächen häufiger: Erschöpfung, unterdrückter/diffuser Ärger, Lähmungsgefühle. Immerhin sind Impfstoffe in Sicht.
März 2021: „Long-Covid-Folgen“ psychosozial?
Die Anfragen nehmen nochmal zu. Es gibt mehr krisenhafte Anlässe. Die Suchtformen sind vielfältig: Online-Glücksspiel, Gaming und Essstörungen beschäftigen uns neben den Dauerbrennern Alkohol und Cannabis. Angehörige suchen die Beratung – anfangs oft per Online. Es kommen wieder mehr Betroffene aus Entgiftungen in Krankenhäusern und auch durch Auflagen von anderen Stellen. Corona macht den Weg raus aus der Sucht und die per-sönlichen Veränderungen schwerer – aber auch so manche Problematik stellt sich klarer, das Angehen dringlicher. 2020 zählen wir im Klientel mehr affektive und Verhaltensstörungen.
Und wir sehen: Die Klienten wollen kommen, Video-Gespräche scheinen weniger gewünscht und nutzen sich mit der Zeit wohl ab. Echte Begegnung mit ganzer Person erscheint doch wichtig. Wesentliches in der Beratung bleibt – nur etwas anders.
Es bleibt, den Blick auf das zu richten, was für mich Bedeutung hat, was für mich zählt und worum es (mir) wirklich geht. Viele sehen dann, dass ihnen trotz Corona-Last und Einschrän-kungen nicht so viel fehlt. Das Aufschieben von Bedürfnisbefriedigung/Konsum war schon immer eine Aufgabe für Menschen, die sich süchtig verhalten. Jetzt ist es eine große Anstrengung für alle gleichermaßen – auch dabei hilft einem der menschliche Kontakt. Und der hängt mehr von der Qualität als von der Anzahl ab.
Ewald Burkard
Dipl. Sozialpädagoge (FH)
Suchtberater/Fachliche Leitung PSB Kitzingen